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Vor sechs Monaten konnten nur wenige mit dem Begriff Coronavirus etwas anfangen. Mittlerweile ist es ein ernstzunehmender Kandidat für das Wort des Jahres, spüren wir doch die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Auswirkungen der Pandemie nach wie vor in unserem Alltag.

Ende Dezember warnte Li Wenliang, Arzt am Zentralkran- kenhaus Wuhan Kollegen vor einer neuartigen Lungenkrank- heit. Am 3. Jänner musste Li eine Erklärung unterschreiben, dass er künftig solche „unwahren Behauptungen“, die die „gesellschaftliche Ordnung stören“, unterlassen werde. Die chinesischen Behörden haben sich mittlerweile entschuldigt. Li wird trotzdem nichts mehr sagen, er starb Anfang Februar im Alter von 33 Jahren an den Folgen von Covid-19.

Vieles über das Coronavirus SARS-CoV-2, das das Schwe- re-akute-Atemwegssyndrom auslöst, ist noch nicht sicher be- kannt, manche Erkenntnisse werden auch wieder in Frage gestellt. So galt anfangs als sicher, dass nur ältere Menschen gefährdet sind, während Junge als die Haupt-Überträger ein- gestuft wurden. Es zeigte sich dann aber: Ganz so problemlos verläuft die Krankheit auch bei vielen jüngeren Menschen nicht. Und über die Frage, welche Rolle Kinder bei der Über- tragung spielen, streiten sich immer noch die Experten. Und mittlerweile wissen die meisten, dass dies keine rein akademi- sche Frage ist, sondern Auswirkungen auf unser aller Leben hat.

Das „alte“ und das „neue“ Normal

Am 25. Februar wurden die ersten beiden Infektionsfälle in Österreich registriert. Mit Ende Juni 2020 gab es in unserem Land insgesamt 17.665 bestätigte Infektionen und 676 To- desfälle. Die Betroffenheit reicht aber weit über die Erkrank- ten und ihre Familien hinaus.

Die österreichische Bundesregierung verhängte zur Ein- dämmung der Ausbereitung der Krankheit ab Mitte März Einschränkungen des wirtschaftlichen und gesellschaftli- chen Lebens. Spätestens seit der Bekanntgabe dieser Lock- down-Maßnahmen hat sich unser Leben radikal verändert. Menschen, die von Vorratshaltung im Rahmen des Zivilschut- zes noch nie gehört hatten, schoben Einkaufswägen mit Ber- gen von Nudeln, Konservendosen, Germ und Mehl durch völlig überfüllte Geschäfte. In vielen Super- und Drogerie- märkten wurde das Toilettenpapier knapp.

Ein großer Teil unseres Alltags wurde von einem Tag auf den anderen umgekrempelt. Aber der Mensch ist anpassungsfä- hig: Viele von uns haben sich im „neuen Normal“ gut ein- gerichtet. Vor allem jene, die in puncto Familienverhältnisse, Gesundheitsstatus (physisch und psychisch), Bildungsstand, Wohnsituation, Arbeitsplatz, finanzieller Absicherung etc. schon vorher eher begünstigt waren, sind vermutlich großteils relativ unbeschadet durch die Krise gekommen. Sie nutzten die Umstände, um öfter mit den Kindern zu spielen, endlich wieder mehr Sport zu betreiben, Mundschutzmasken zu nä- hen oder Brot zu backen.

Bildungsschere geht auf

Doch es gibt auch jene, die durch die Corona-Krise und die Maßnahmen zur Eindämmung weiter zurückgeworfen wurden. Im Bildungsbereich wurde dies sehr deutlich. Die plötzliche Umstellung auf Distance-Learning und Home- schooling hat die ungleiche Chancenverteilung noch weiter verschärft hat. Laut einer IHS-Befragung von Lehrern wa- ren zwölf Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler während der Schulschließung schwer oder gar nicht für sie erreichbar. Bei den ohnehin schon wegen Sprachproblemen oder sozial schwachem Elternhaus benachteiligten Schülern waren über ein Drittel nicht erreichbar. Logische Konsequenz: 80 Pro- zent der Pädagogen kommen zu dem Schluss, dass die Kluft zwischen den bevorzugten und den benachteiligten Schülern während des Shutdowns weiter gewachsen ist.

In der 24-Stunden-Pflege wurde uns durch ein Schließen der Grenzen die europäische Arbeitsteilung in diesem Bereich (inkl. der prekären Arbeitsbedingungen und der für den ös- terreichischen Lebensstandard wenig lukrativen Bezahlung) ins Bewusstsein gerufen. Auch die Kinderbetreuung hat sich kurzfristig ins mediale Rampenlicht gestellt. Beides Bereiche, für die in unserer Gesellschaft tendenziell Frauen, tendenzi- ell un- oder schlecht bezahlt zuständig sind. Eine Studie der Universität Wien zeigt, dass sich mit der Corona-Krise die ge- schlechtsspezifischen Zuständigkeiten für die Kinderbetreu- ung noch verstärkt haben. Bei Schließung von Kindergärten

und Schulen sind es vor allem die Mütter, die ihre Kinder be- treuen und mit ihnen lernen: 47 % der Frauen und 29 % der Männer haben in der Phase des Lockdowns viel mehr Zeit für diese Tätigkeiten aufgewendet (und das von schon geschlech- terspezifisch unterschiedlichen Ausgangswerten).

In den letzten Wochen wurde deutlich, dass die Corona-Krise nicht nur eine Gesundheitskrise ist. Mittlerweile sind (fast) alle gesellschaftlichen Teilbereiche betroffen. Und hier wie da, im Großen wie im Kleinen wirkt die Krise wie ein Brenn- glas auf die sozialen Verhältnisse. Wenn ohnehin alles gut läuft, ist so eine Pandemie eine Erschütterung, mit der man zurecht kommt. Unter weniger vorteilhaften Umständen – und sei es auch nur in einem Teilbereich des Lebens, kann aber ein Flächenbrand entstehen, dessen Schäden die Coro- na-Krise – egal wie lange sie uns noch begleiten wird – über- dauern. Den ersten Löschzug hat die Regierung schon aus- geschickt. Weitere werden benötigt. Genaues Hinschauen ist jedenfalls wichtig.